S. Zala: Die Moderne und ihre Krisen

Cover
Titel
Die Moderne und ihre Krisen. Studien von Marina Cattaruzza zur europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Festgabe zu ihrem 60. Geburtstag


Herausgeber
Zala, Sacha
Erschienen
Göttingen 2012: V&R unipress
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Jörg Fisch

Man kann den vorzustellenden Band am ehesten als «kleine Schriften» mit Festschriftcharakter bezeichnen. Es geht offensichtlich nicht darum, alle wichtigen Aufsätze der Jubilarin zu einzelnen Themen der Geschichtswissenschaft leicht zugänglich zu machen. Das wäre angesichts des formidablen Schriftenverzeichnisses und des noch fast jugendlichen Alters der Gefeierten von vornherein ein aussichtsloses Unterfangen. Statt dessen legt das Buch insgesamt fünfzehn Aufsätze aus vier verschiedenen Arbeitsgebieten vor, alle auf Deutsch, im Original oder in Übersetzung.

Es fällt nicht ganz leicht, ein solches Buch zu besprechen. Am ehesten liesse sich der Leistung der zu Feiernden gerecht werden, wenn ihr Beitrag zu einzelnen Themen der Historiographie gewürdigt würde. Dafür aber müssten alle ihre jeweils einschlägigen Schriften berücksichtigt werden, und ein sachgerechtes Urteil würde die Kenntnisse des Rezensenten übersteigen. Deswegen soll der Band im Folgenden für sich betrachtet werden, ohne zu fragen, was die Autorin in den betreffenden Gebieten sonst noch geleistet hat. Das bedingt die Unterstellung, dass die Herausgeber, zumindest unter stillschweigender Duldung, wahrscheinlich aber auch mit moralischer Unterstützung der Autorin festgelegt haben, was als repräsentative Auswahl bezeichnet werden soll.

Der Band ist in vier Teile gegliedert, die ebenso vielen Arbeitsgebieten entsprechen, im Prinzip in chronologischer, sich aber zeitlich überschneidender Ordnung.

Der erste Teil, mit dem etwas spröden Titel «Bürgertum, Arbeiter, Urbanisierung» ist mit Abstand der beste und interessanteste. Er zeigt die Autorin in ihrer vollen Schaffenskraft inmitten der Themen, mit denen sie gross geworden ist. Es handelt sich um die Sozialgeschichte (im weitesten Sinne verstanden) Triests und der umliegenden Gebiete Österreich-Ungarns im Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg. Cattaruzza zeigt ihre Stärken in prägnanten Aufsätzen; manche von ihnen sind wahre Kabinettstücke. Sie verbinden einen weiten Horizont mit der Liebe zum Detail, mit reflektierter Darstellung und der Fähigkeit zum Vergleich, besonders verdeutlicht durch den Einbezug Deutschlands, so in zwei meisterhaften Abhandlungen, in denen die Autorin die Werftarbeiter von Triest und Hamburg miteinander kontrastiert. Immer wieder gelingt es ihr, den Mikrokosmos zum Makrokosmos auszuweiten. Der Leser erhält keine vagen Vermutungen, sondern präzise Angaben. All dies führt nicht in die gesichtslose Abstraktion, sondern wird durch Details unterstützt und verdeutlicht, bis selbst den Kristallleuchtern eines Vereins ihre Geheimnisse entlockt werden.

Der einzige Nachteil ist, fast unvermeidlicherweise, dass diese Höhe im späteren Werk nicht mehr in vollem Masse erreicht wird, einfach weil die Rahmenbedingungen nicht mehr in gleich idealer Weise gegeben sind wie beim Thema Triest. Ob der zweite Teil, überschrieben «Nation, Nationale Frage, Nationale Konflikte » als eigener betrachtet werden soll, wie es im Band geschieht, oder ob er im Grunde noch zum ersten gehört, darüber lässt sich streiten. Die Nation steht zweifellos im Mittelpunkt. Aber die Aufsätze vermögen umso eher zu überzeugen, je stärker der erste Teil in sie hereinragt. Der Leser erlebt die allmähliche Entstehung des Nationalismus im Habsburgerreich mit, und er wird mit den Hintergründen der einzelnen Nationen vertraut gemacht.

Dass der Nährboden einer räumlich begrenzten, dafür aber äusserst intensiv bewussten Geschichte nur noch marginal wirkt, wodurch dann dem historiographischen Ergebnis etwas das Leben fehlt, zeigt sich in den drei Aufsätzen des dritten Teils über «Fragen der Geschichtsschreibung». Diesem fehlt die Präzision und Ziselierung, aber auch der weite Blick der Stücke über Triest etwas. Fragen der Theorie der Historiographie bleiben ausgeklammert. Bemerkungen zur Wissenschaftsgeschichte im Kaiserreich und im Nationalsozialismus sowie zur Historiographie der Shoah kommen nur teilweise über die deskriptive Ebene hinaus. Es fehlt die Vertrautheit mit dem lebensweltlichen Hintergrund.

Das gilt, wenn auch in stärker dialektischer Weise, auch für den letzten Teil, überschrieben «Minderheiten und Aussiedlungen». Die Autorin ordnet ihre Thematik in einen grösseren europäischen Zusammenhang ein und zeigt, wie die «Verstaatlichung» der Menschen zu einer grösseren Bedeutung der Nation führte, mit der Folge einer zunehmenden Exklusion der Angehörigen von Minderheitsvölkern.

Hier erfolgt in der Geschichtsschreibung Cattaruzzas eine Art Paradigmenwechsel. Vordergründig kommt es zu einer Ausweitung des Horizonts, indem das behandelte Gebiet auf ganz Europa ausgeweitet wird (wobei das grösste einschlägige Ereignis des 20. Jahrhunderts, die Teilung Indiens 1947, nicht erwähnt wird). In Wirklichkeit handelt es sich aber, vom historiographischen Ertrag her, eher um eine Einengung als um eine Ausweitung. Die Darstellung in den drei Aufsätzen des letzten Teils beruft sich mit scheinbar unabänderlicher Konsequenz auf die allmähliche Durchsetzung des primär ethnischen Homogenitätskriteriums, und die Autorin zeigt, bei voller Anerkennung des Schreckens, der mit den Vertreibungen verbunden war, doch eine gewisse Empfänglichkeit für die Botschaft der Anhänger ethnischer Säuberungen, durch die jahrhundertalte Konflikte offenbar dauerhaft aus der Welt geschafft werden können.

Hier liegt eine Engführung vor, die so tut, als hätten keine Alternativen bestanden. So wirkt es schlicht irreführend, den grössten Teil der Vertreibungen von Deutschen während und nach dem Zweiten Weltkrieg als Konfliktlösung statt als Schaffung neuer Konflikte zu bezeichnen. Vielmehr erfolgten Gebietsverschiebungen ganz traditioneller Natur, zusätzlich abgesichert durch die Vertreibung der bisherigen Bevölkerungen. In Görlitz und in Stettin mussten keine Siedlungsprobleme gelöst werden. Sie wurden stattdessen allererst geschaffen. Die Machtpolitik des 20. Jahrhunderts war ebenso wenig von Siedlungsgrenzen bestimmt wie in den Jahrhunderten zuvor. Im übrigen bestand auch kein Fatalismus, dass keine andere Lösung für möglich gehalten wurde, weil die führenden Akteure fanatische Nationalisten gewesen wären. Churchill war ein alter Imperialist, der Kolonialherrschaft sichern und keine ethnischen Säuberungen durchführen wollte. Stalin war der Nachfolger Lenins, der durch die Propagierung des Selbstbestimmungsrechts der Völker weltweite Wirkung erzielt hatte, und Roosevelt war der Nachfolger Wilsons, der am Ende des Ersten Weltkrieges das Selbstbestimmungsrecht zwar nicht proklamiert, aber doch wohlwollend betrachtet hatte – mit der langfristigen Wirkung, dass das Selbstbestimmungsrecht 1966 zu einem zentralen Satz des Völkerrechts aufgerückt war. Und schliesslich hatte das Instrument des Plebiszits, wenngleich in einem begrenzten Rahmen, durchaus brauchbare und akzeptierte Resultate erzeugt nach dem Ersten Weltkrieg.

Die ethnische Homogenisierung ist also kein notwendiges und unvermeidliches Ergebnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts – das zeigen die vielgestaltigen anderweitigen Untersuchungen der Autorin am besten.

Zitierweise:
Jörg Fisch: Rezension zu: Sacha Zala (Hg.): Die Moderne und ihre Krisen. Studien von Marina Cattaruzza zur europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Festgabe zu ihrem 60. Geburtstag. Hg. in Verbindung mit Sabine Rutar und Oliver J. Schmitt unter Mitarbeit von Franziska Ruchti. Göttingen, V & R unipress, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 525-527